(Auszug der 6. Ausgabe des GEAB - 15. Juni 2006)

Die wachsenden Schwierigkeiten, denen sich der Beitrittsprozess der Türkei zur Europäischen Union ausgesetzt sieht, kontrastiert mit der schrittweisen Erweiterung um die Länder des Balkans (1) (Slowenien ist bereits Mitgliedstaat, Kroatien beginnt die Beitrittsverhandlungen, und die Initiativen für eine Erweiterung um die anderen Balkanländer werden immer zahlreicher).
Dieser Kontrast ist umso auffälliger, wenn man die Entwicklung der öffentlichen Meinungen in den verschiedenen betroffenen Ländern miteinander vergleicht. In der Türkei wird die EU und die Beitrittsperspektive seit Dezember 2004, Datum des symbolischen europäischen Plazet für die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen immer weniger positiv gesehen; in den Staaten, die aus dem Auseinderbrechen von Yougoslawien entstanden sind, verläuft diese Entwicklung genau in die entgegen gesetzte Richtung.
Bei den öffentlichen Meinungen in den Mitgliedstaaten der EU stellt die Forschungsgruppe von LEAP/E2020 vor dem Hintergrund eines allgemeinen Überdrusses der endlosen (2) Erweiterung Tendenzen fest, die diese auseinander laufenden Entwicklungen zu erklären vermögen: Die Menschen in Europa lehnen nunmehr weitere Erweiterungen ab, wenn in ihnen zwei Elemente vorherrschen: Zum einen, wenn die Erweiterungen so bedeutend sind, dass sie die allgemeine Austarierung der aktuellen Gleichgewichte in Frage stellen, zum anderen, wenn diese Erweiterungen nicht die Europäische Integration zum Abschluss führen, sondern vielmehr durch die Beitrittskandidaten sich neue Fragen und neue Probleme stellen würden, die die Antwort auf die Frage nach der europäischen Identität und Grenzen auf die griechischen Kalenden verschöbe.
Unter diesen Bedingungen ist es nicht überraschend, dass der Widerstand in der Bevölkerung gegen einen Beitritt der Türkei und der Ukraine zunimmt (wobei die letztere noch nicht einmal über einen Kandidatenstatus verfügt), während die mögliche Erweiterung um Balkanländer keinen besonderen Widerspruch hervorruft (wenn auch diese Perspektive keine Begeisterung aufkommen läßt). Denn eine Erweiterung um die Türkei oder die Ukraine würde eine Neubestimmung der Identität der Europäischen Union und ihrer Grenzen erfordern; dahingegen wird die Erweiterung um den Balkan als Abschluss des Projekts der Einigung des Kontinents, wie er vor 50 Jahren begonnen wurde, angesehen. Darüber hinaus ist die Bevölkerung der Balkanstaaten im Verhältnis zur Gesamteinwohnerzahl der EU nicht so bedeutend. Dahingegen würde ein Beitritt der Türkei oder der Ukraine den demographischen Status-quo massgeblich verändern.
Für die LEAP/E2020-Forschungsgruppe ist eindeutig, dass allein die öffentlichen Meinungen in der EU in der Lage sind (3), entscheidende Politikweichenstellungen vorzunehmen, denn die Institutionen haben ihren Legitimitätsanspruch und ihre Handlungsfähigkeit eingebüßt und jegliche Vision über die Zukunft verloren; damit bedarf es keines besonderen Wagemuts heute vorher zu sagen, dass die Beziehung der EU mit der Türkei oder der Ukraine sich anders entwickeln wird, als dies von der offiziellen EU-Marschroute vorgesehen ist. Im selben Maße, wie die Zukunft einer europäischen Verfassung nicht in Brüssel entschieden wird, werden die zukünftigen Erweiterungen nicht von den Entscheidungen der Institutionen abhängen. Weder die Türkei, noch die Ukraine werden in den nächsten zwanzig Jahren der EU beitreten; dahingegen werden die Balkanstaaten, vielleicht sogar schon in den nächsten zehn Jahren, Mitgliedstaaten geworden sein.
LEAP/E2020 geht davon aus, dass die EU spätestens im Jahr 2010, also nach den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament, bei denen all die Parteien, die sich für die endlose Erweiterung nach Osten aussprechen, Wahlschlappen erleiden werden, gezwungen sein wird, der Türkei eine "strategische Partnerschaft" vorzuschlagen, und dabei deutlich machen muss, dass dies die zwingende Alternative zu einer Beitrittsstrategie ist, die nicht zu einem Beitritt führen kann, sondern zu einem Anwachsen der anti-türkischen Ressentiments in Europa und den anti-europäischen Ressentiments in der Türkei. Zu diesem Zeitpunkt werden die zwei Komponenten türkische Machtelite (zum einen die islamischen Politiker und zum anderen die laizistischen Militärs) selbst eine solche Partnerschaft als Lösung vorschlagen, da auch sie kein reelles Interesse an einem Beitritt haben. Denn in der Wirklichkeit stellt für beide Machtkomponenten der Türkei die Beitrittsperspektive nur ein Mittel dar, um ihre Bevölkerung zu mobilisieren, aber beide Gruppen lehnen eigentlich den Beitritt ab, da sie damit ihre autoritäre (für die Militärs) oder ihre religiöse Machtbasis (für die islamischen Politiker) verlören.
Die LEAP/E2020-Forschungsgruppe ist zur Erkenntnis gelangt, dass paradoxer Weise die Lösung für dieses Dilemma, in das vierzig Jahre EU-Türkei - Politik geführt haben, von Russland kommen kann. Die Türkei wird jede Beitrittsalternative ablehnen, die sie in mit Ländern wie den Maghreb-Staaten, Ägypten, Libanon etc. in einen "Nachbarstaaten-Sack" stecken würde. Die Türken, und das gilt für ihre Machteliten genauso wie für die einfachen Menschen auf der Straße, gehen aus naheliegenden historischen Gründen davon aus, dass sie in einer ganz anderen Kategorie der Geopolitik mitspielen als diese Länder. Und es gibt ein Land, dass zu der Kategorie zählt, zu der sich die Türken zugehörig fühlen (also zu den Groß - oder zumindest Mittelmächten) und das nicht in die EU drängt, aber das sehr wohl eine besondere Partnerschaft mit ihr anstrebt, nämlich eine strategische Partnerschaft. Und dieses Land ist Russland.
Genau diese Auffassung haben die Teilnehmer von LEAP/E2020, die am GlobalEurope EU-Russland 2020 im Oktober letzten Jahres in Moskau (4) teilgenommen haben, vertreten: Die EU muss der Türkei einen Vorschlag unterbreiten, der ihr erlaubt, erhobenen Hauptes aus der Sackgasse herauszukommen, in die sich EU und die Türkei mit der Beitrittsperspektive verrannt haben. Aus der Sicht von Ankara ist es etwas ganz anderes, in einer Liga mit Moskau zu sein, statt in einer mit Tunis, Beirut oder Algier. Für die EU-Institutionen wäre dies eine sehr vorteilhafte Lösung, da damit einer der gewichtigsten öffentlichen Kritikpunkte an der EU-Politik ausgeräumt wäre. Für Russland wäre es hilfreich, wenn dieser Weg sich auch der EU als Lösungsmöglichkeit erschlösse, da es damit für Russland leichter würde, die Gemeinschaftsinstitutionen endlich von ihrem hohen Ross herabzukommen und sie dazu zu bringen, sich tatsächlich auf den Weg einer wahren dauerhaften Partnerschaft mit Russland zu begeben. Diese Entwicklung hat im übrigen durch die Energiepolitik Russlands und den Energiebedürfnissen Europas bereits eingesetzt (5).
Leap/E2020 Laboratoire Européen d’Anticipation Politique
(Auszug der 6. Ausgabe des GEAB - 15. Juni 2006)-------
Noten:
(1) Die noch durch die um Albanien komplettiert wird, und wenn auch nur, weil die Frage des Kosovos eng mit der Integration der drei Entitäten (Serbien, Kosovo und Albanien) verbunden ist.
(2) Jenseits aller Meinungsumfragen, die klar aufzeigen, dass die Menschen der Erweiterungen überdrüssig sind, besitzen die Mitarbeiter von LEAP/E2020 den Vorteil, regelmäßig in ganz Europa unterwegs zu sein und damit diese Analyse unmittelbar nachprüfen zu können. In fast allen Mitgliedstaaten ist die Frage eines Beitritts der Türkei nicht mehr nur ein Gegenstand von eventuellen Antworten in Meinungsumfragen, sondern wirkt sich unmittelbar auf Wahlintentionen aus. Zukünftig ist davon auszugehen, dass zu den Themen, die die Wahlentscheidung von vielen Wählern bei nationalen Wahlen beeinflussen, auch der Türkei-EU-Beitritt gehört; und für die überwiegende Mehrheit dieser Wähler ist nur eine Wahlaussage geeignet, ihre Stimme zu gewinnen: ein Nein zum türkischen Beitritt. Man muss sich nur die aussichtsreichen Kandidaten bei den wichtigen anstehenden nationalen Wahlen in den Mitgliedstaaten der EU betrachten, um zu wissen, dass in wenigen Jahren niemand mehr im Europäischen Rat sitzen wird, der sich für einen Türkei-Beitritt einsetzen wird.
(3) Vgl die Sektionen Demokratisierung und Institutionen von Europe 2020 und das Buch Vision Europe 2020
(4) Vgl. Europe2020 (5) Die nachhaltige Schwächung des amerikanischen Einflusses in Europe bringt den Türkei-Beitritt im übrigen um seinen maßgeblichen Fürsprecher.